Goethe in der grünen Stube
Titel
Goethe in der ´grünen Stube`. Klassikerlektüre in Lübeck in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Der Wagen, hrsg. v. Alken Bruns. Lübeck: Schmidt-Römhild, 2002, S. 53-79
Einführung
In einer Vorstadtvilla am Traveufer, einem sogenannten Gartenhaus, wurde bei der Inventarisierung des Nachlasses einer Frau Gerichtsrätin 1861 ein Bestand an Goethe-Ausgaben protokolliert. Eine zwanzigbändige Werkausgabe und eine sechsbändige Prachtausgabe standen in einer „grün“ dekorierten „Stube“ zusammen mit Bibel, Gesangbüchern und Erbauungsschriften. Im „Bibliothekszimmer“, in der „blauen“ sowie in der „grauen Stube“ standen klassische und aktuelle Werke der deutschen und der europäischen Belletristik, über die juristische Bibliothek des schon früher verstorbenen Hausherrn lag ein gesondertes Verzeichnis vor.
Was erzählt diese Absonderung? Wurde Goethe als christlicher Erbauungsschriftsteller gelesen? Ein interessanter Befund, den zu deuten, der Beitrag sich zum Ziel gesetzt hat. Mehr als 500 Lübecker Haushalte der Zeit von 1800 bis 1860, über die ein Inventar vorliegt, wurden untersucht auf Buchbesitz und Lektürespuren. Es zeigt sich, dass es in Lübeck Goethe-Liebhaber von Rang gab, der Autor aber um 1860 noch beileibe kein intellektuell stillgestellter Klassiker war, sondern umstritten, d.h. literarisch lebendig.
Goethes Werke an die Seite der christlichen Hausväterliteratur zu stellen in einem Gesellschaftszimmer, wird den Besuchern Stoff und Anregung für Debatten geliefert haben. Pastor Ranke an St. Marien etwa bezeichnete Goethe als Heiden. Er wohnte neben Famile Mann (J. S. Mann jr.) in der oberen Mengstraße, die Familien Ranke und Mann hielten fest zusammen im Glauben. Ein anderer Zweig der Familie Mann lebte unweit entfernt in der Beckergrube, dort schätzte man Goethe und die neue deutsche Literatur und hielt sich von orthodoxen Protestanten fern.