Nähe und Distanz – Heinrich Mann und seine Mutter Julia

in: Julia Mann und ihre Kinder Heinrich, Thomas, Julia, Carla,Viktor. Hrsg. von Ulrike Leutheusser, Allitera Verlag, September 2019, Seite 41-67

Heinrich Mann hat in seinen literarischen Texten und in seinen Zeichnungen bis ins Alter und ausführlich von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, sich in Masken und Figurationen mit der mütterlichen Sphäre zu beschäftigen. Was ihn bewegte, war die Faszination, die Julia Mann als Frau auf ihn ausübte, seine Beziehungen zu ihr als Sohn und der Einfluss, den ihre Persönlichkeitsbildung zwischen den Kulturen Deutschlands und Brasiliens auf seine mentale Konstitution und Weltwahrnehmung ausübte. Julia Manns Biografin Dagmar von Gersdorff nennt vier Texte Heinrichs, die die Mutter entweder direkt auf sich beziehen oder von Verwandten und Freunden auf die Mutter bezogen werden konnten: In einer Familie (Roman, 1894), Zwischen den Rassen (Roman, 1907), Eugénie oder Die Bürgerzeit (Roman, 1928) und Das Kind (Novellen, 1929). Eingestreute realistische Details konnten von zeitgenössischen Lesern, die dem Autor familiär oder freundschaftlich verbunden waren, als Schlüssel dienen, um dessen Sprachspiele biographisch zu verorten. Die thematische Spannweite seiner ästhetischen Gestaltungen reicht von der schonungslosen Offenlegung des krankhaft zerrissenen Liebesverlangens in der Person eines jungen Hamburgers in seinem ersten Roman bis zu der märchenhaften Fantasiegeschichte eines jungen Elternpaares in Lübeck. Deren Bedrohungen und Anfechtungen durch zügellose Abenteuerlust in geschäftlicher und liebesleidenschaftlicher Hinsicht werden von ihrem kleinen Sohn wachen Sinnes wie von fern beobachtet.