Von Wolframs Parzival zu Geibels Septembernacht

Literatur als Wandmalerei in Lübecker Häusern zwischen 1350 und 1900
Vortrag im „Litterärischen Gespräch“ der Gemeinnützigen am 27. September 2007

Der Titel des Vortrages nennt einen sehr bekannten höfischen Roman, entstanden zwischen 1200 und 1220 sowie ein wenig bekanntes politisches Gedicht, entstanden um 1850.
Wir haben es tun mit einem Phänomen der „Langen Dauer“, hier gut 500 Jahre.
Jahrhunderte hat man Literatur auf die Wände in Wohnhäusern gemalt, in Dielen und in Festsäle. Heute macht man Filme. Konstant geblieben ist die Übertragung von Wort zu Bild, verändert ist im Falle der Wandmalerei in Wohnhäusern der soziale und Zusammenhang: ein Film wendet sich an ein großes unbekanntes Publikum mit sehr unterschiedlichen Erwartungen, eine Wandmalerei hat einen Auftraggeber mit bestimmten Erwartungen.

Wandmalerei

Foto: Joachim Bauer, Lübeck

Es gibt in der Forschung ein zunehmendes Interesse am Phänomen der Übertragung von einem Medium (Text) in ein anderes (Bild, Film). Man spricht in diesem Zusammenhang oft von „Adaption“, das meint ‚Übersetzung’, ‚Übertragung’. Darin steckt Adaptabilität (= Anpassungsfähigkeit). Ob das ein guter, ein passender Begriff ist? Relativ brauchbar ist der Begriff Adaption für das Phänomen der Buchillustration: der gute Illustrator dient dem Textverstehen. In anderen Fällen meine ich, ist Adaption untauglich. Der Begriff verengt das Blickfeld, setzt eine Vorstellung von „Original versus Kopie“. Etabliert wird unter der Hand eine einseitige hierarchische Abhängigkeitsbeziehung und zugleich eine Bewertung, ein Maßstab: das Ursprüngliche, das Erste, das Bedeutende (der Text) steht gegen das Spätere, Minderrangige (Bild/Film).

Der Vortrag möchte Vorschläge machen zur Öffnung der Diskussion. Zunächst steckt in jeder Übertragung eine spezifische Lesart des Bezugstextes. Jede Lektüre ist wertend, gewichtend. Das für sich ist schon einmal spannend, denn es gibt zwar viele Leser, aber nur wenige Zeugnisse von Lektüren, schon gar nicht von Laien. Und wenn der Leser bereits Hunderte von Jahren tot ist, dann wird es noch spannender: Kann man etwas über ihn in Erfahrung bringen in den Archiven?
Und dann vermag jedes Medium etwas Spezifisches zu leisten, was ein anderes nicht kann. Ein Text erzählt in der Regel im Modus des Nacheinanders, ein Bild z. B. kann Ereignisse zusammenziehen, gegenüberstellen. Wer also einen Roman kennt und sieht ihn nun als Malerei an einer Wand, bekommt viel Gelegenheit zum Nachdenken, nicht nur über die Wahrnehmungsweise des Malers, sondern auch über seine eigene: Das Gespräch über Literatur kann beginnen, genauer gesagt, es kann vertieft werden …